26. Januar 1858
Mama ging am Morgen in d. Schulen, ich las zuerst, arbeitete, und ging um 10 Uhr in den Spital, wo ich im ungefähr noch die nämlichen Kranken fand. Das Kind der jungen Person ist gestorben; sie selbst wird kaum aufkommen, scheint aber verstokt u. ohne Reue über ihre Sünde!
(…) Um 5 Uhr zog ich mich dann an u. erwartete Mama, die bei Elise war, aber versprochen hatte heimzukommen. Schon war es 6 Uhr u. immer sah ich vegebens zum Fenster hinaus, am Ende kam Nanny angefahren, aber Mama war nicht mit ihr, u. ich glaubte zuerst, es sei etwas mit Elise und wollte gar nicht ins Conzert. Nanny u. Papa zwangen mich dazu u. so wurde ich dann mit ganz verweinten Augen hingetrieben. Es hatte noch nicht sehr viel Leute und wir setzten uns in den vordersten Bank. Später kam dann noch Frau Bodmer-Pestaluz zwischen uns. Ich sah ziemlich viel Bekannte und es war mir recht heimlich. Auch Herr B. Mousson war da; aber den Sohn sah ich nicht und war ganz gestreßt, daß er gar nicht wegen dem kalten Wetter nicht kommen dürfe. Die Musik gefiel mir recht gut, und plötzlich gleich im Anfang der Pause kam H. M. dann doch. Ich war natürlich doch ein wenig befangen, er hingegen war sehr freundlich u. artig. Er hat noch die nämlichen freundlichen Augen u. wenn er schon gar nicht schön ist, so ist er doch gar nicht unangenehm u. machte mir einen recht lieben Eindruck; das wäre doch der Erste, der mir nicht unheimlich ist, u. vor dem ich nicht in Gedanken zurückschaudere. Er sah nicht schlecht aus, und hatte glaube ich, doch Freude, mit mir zu reden. Er sagte, wie lange er mich nicht gesehen, wie es Mama u. Elise gehe, dann wieder von seiner Mama, von unserer Büchertrucke, v. Böhmen, von den Conzerten u. s. f. verabschiedete sich dann aber plözlich. Ich sah ihn dann noch mehrere Mahle, und auch beim Fortgehen. Er gab aber kein Zeichen, u. ich weiß nicht, ob aus Discretion oder weil er nun Alles überwunden hat. O mein Heiland, gib Du ihm Muth u. Kraft zu kämpfen, laß es ihm hier auf Erden noch wohl gehen, oder nimm ihn dann heim zu Dir, in die ewige Seligkeit. Mir scheint er sei fast zu gut für diese Erde, die ihm eigentlich doch nur Mühe u. Trübsal bringt. O erhebe Du seinen Geist zu Dir, u. gib ihm Deinen Frieden. Segne Du uns, so oft wir zusammen kommen, sei immer bei uns, und laß uns nichts reden, als was z. unserm ewigen Heile dient. Behüte Du beide vor jeder Leidenschaftlichkeit, u. laß mich treu an meinen Pflichten festhalten!
Hier schreibst Du sehr ausführlich über Conrad Ferdinand Meyer und wie Du zu ihm stehst. Wieder ist Deine Schilderung von derselben Ambivalenz geprägt, von Deiner Zuneigung ihm gegenüber einerseits und doch auch mit viel Klarheit davon, dass Du jede Leidenschaft von Dir weisen möchtest. Auch in Deiner Zeit war Liebe und Verliebtheit wohl keine lineare Sache.
Conrad Ferdinand Meyer sprach wohl auch über seine Mutter, mit der er kein gutes Verhältnis hatte, und die sich 1 1/2 Jahre vorher das Leben nahm.