23. November 1857
Am Morgen war ich ziemlich früh, las u betete u. ging z. Hr. Schlumberger, wo mir aber nichts besonders gerieth, da ich keinen rechten Frieden hatte. Nachmittags war zum ersten Mahl Foral. Die liebe J. Escher kam, u. war recht freundlich, doch hat sie viel zu thun u. kann sich nicht mit einzelnen abgeben. Ich habe aber jetzt wieder aufs Neue ihre Liebe erfahren u. will mich darum, auch wenn sie mich nicht beachtet, mich nicht gleich betrüben. Nachdem Foral ging ich noch zu Frau Bodmer-Stockar, welche freundlich aber doch etwas kalt war, u. nur immer v. Nanny redete. Abends mußte ich ins Theater, wo Sir Aldridge den Kaufmann v. Venedig u. ein kleines Negerstück gab. Ich ging nur ungern, da Mama wegen Husten nicht mitkonnte, doch war es ziemlich herlich.
Heute gingst Du zum erstem mal in den Foral - ein Wort, dass wir nicht kennen und auch kaum entziffern konnten. Ein Fund im Schindler-Bestand im Staatsarchiv Zürich half uns schliesslich auf die Sprünge: Es handelt sich um ein Heim für verwahrloste Kinder in Chur, welches von einigen gut situierten Zürcher*innen unterstützt wurde, die sich ihrerseits regelmässig trafen. Du kennst natürlich viele, die sich dort engagieren und wirst sie in späteren Einträgen erwähnen.
Aus “Die Entwicklung der Armenfürsorge in Graubünden” Andréa Kaufmann Dazzi Guadench u.a: Puur und Kessler: Sesshafte und Fahrende in Graubünden. hrsg. vom Institut für Kulturforschung Graubünden 2008.